Wenn die Stimme nicht will
(Christoph Habegger – Feldenkrais Forum 4. Quartal 2012)
Wenn ich Max Glauben schenke, ist jeder seiner Auftritte eine Tortur. Angst, Überanstrengung, Atemnot und Stimmverlust sind seine ständigen Begleiter.
Und doch ist der 30-jährige Sänger ausserordentlich erfolgreich. Die Zeitschrift „Opernwelt“ schrieb, dass er mit einer der schönsten Stimmen seines Fachs gesegnet sei. Als Countertenor singt er in der Carnegie Hall New York, am Pariser Theatre Champs Elysees, der Londoner Barbican Hall oder der Bayrischen Staatsoper in München. Er hat über 12 Soloalben aufgenommen und ist in Europa, Amerika und Japan gleichermassen gefragt.
Max kommt zu mir, weil er nach einem vollständigen Stimmverlust zwei Jahre pausieren und sich mit kleinsten Rollen und Konzertauftritten wieder einarbeiten musste. Mittlerweile ist er seiner Schilderung nach soweit, wieder eine halbe, wenn es gut geht eine ganze Stunde singen zu können, bevor „das Instrument“ auszusetzen beginnt. Er möchte seinen Körper „in den Griff bekommen“, seine Atem- und Stimmtechnik dahingehend verbessern, dass diese unsäglichen Verspannungen und Schmerzen im Brust-, Schulter- und Halsbereich nicht mehr auftreten, seine Stimme in der Höhe klar und in der Tiefe voll bleibt.
Max teilt mir schon bei unserem ersten Telefongespräch mit, dass er viel unterwegs sei und sich für die Zeit, die er in Wien verbringe, eine intensive Betreuung wünsche. Wenn möglich täglich. Wir vereinbaren also drei aufeinander folgende Termine.
Als ehemaliger Schauspieler und Musicaldarsteller, als Feldenkrais Practitioner und Atem-Tonus-Ton Stimmpädagoge setze ich mich seit vielen Jahren mit Atem und Stimme auseinander, lernend und lehrend. Als Sänger oder Gesangspädagogen habe ich mich jedoch nie betrachtet.
Mein Zugang zu Stimme, Sprache und Gesang ist körperlich. Es geht mir um authentische, natürliche, spontane Klänge. Meine Möglichkeit sehe ich darin, andere darin zu unterstützen, ihre persönliche Stimme freizulegen. Den eigenen Körper als Instrument kennen und achten zu lernen und dem eigenen Wesen mit seinen unbewussten Anteilen Stimme zu geben.
Dies ist nicht an Sprache oder Gesang gebunden. Es bietet dem Einsteiger eine gesunde Basis für die weitere Entwicklung und dem Profi die Möglichkeit, seinen Körper und die damit verbundenen seelischen und geistigen Prozesse bewusster wahrzunehmen.
Wird sich ein international erfolgreicher Sänger mit bedrohlichen Stimmproblemen und Zeitdruck auf einen solchen Prozess einlassen? Werde ich ihm etwas Wesentliches zu bieten haben? Ich bin sehr gespannt auf diese Begegnung.
Max ist ein kleiner, muskulöser Mann. Er spricht schnell und viel, seine Stimme findet dabei wenig Resonanz, der Atem wird im vorbei gehen geschnappt.
Er erzählt mir von seinen Schwierigkeiten, dem Reflux, den dadurch verursachten Stimmbandverätzungen, dem Stimmverlust, der Panik beim Singen, dem existenziellen Druck, den Cortisonbehandlungen.
Ich bitte ihn, sich auf den Rücken zu legen und leite ihn durch einige einfache Wahrnehmungsexperimente: wir erforschen den Atemrhythmus, die Pausen zwischen den Atemphasen, die Dynamik. Er spürt die Atemwege, die Atemräume in Brustkorb, Flanken, Bauch, Becken. Der Atem wird als Welle zwischen Brust- und Bauchraum hin und her geschoben, mal im Einatem, mal im Ausatem oder vom Atemfluss entkoppelt. Max ist dabei sehr gesammelt. Ich kann beobachten, wie seine Aufmerksamkeit wandert und sich dadurch die Atembewegung verändert. Es gelingt ihm auf Anhieb, die unterschiedlichen Räume zu weiten und sinken zu lassen – die Atemwelle fließt. Auch wenn er das Weiten des Brustkorbs bevorzugt und die Bewegungen etwas schnell und angestrengt vonstatten gehen: Max kennt seinen Körper besser, als ich es vermutet hätte.
Auch im Sitzen erkunden wir die Atembewegungen in Bauch, Becken und Rücken. Ich lege meine Hände auf unterschiedliche Stellen seines Rückens und bitte ihn, seinen Atem in meine Hände fliessen zu lassen. Manche Stellen sind ihm sehr vertraut. Sich unter meinen Händen auszubreiten, fällt ihm leicht. So zum Beispiel im mittleren Rücken. Seine Sitzhaltung kennt zwei Möglichkeiten: entweder in der oberen Lendenwirbelsäule durchgestreckt und das Brustbein nach vorne geschoben, oder aber im mittleren Rücken kollabiert und den Brustkorb eingesunken. Sein Becken bleibt so oder so immer ein wenig nach hinten gekippt. An anderen Stellen tut er sich schwer, Atembewegung zu spüren, unter meinen Händen weit zu werden: so zum Beispiel in der Lendenwirbelsäule oder im Kreuzbein.
Ich leiste ihm mit meinen Händen einen leichten Widerstand und bitte ihn, im Einatem sanft gegen meine Hände zu pressen. Er lässt sich auf seinem Becken etwas nach hinten rollen und rundet seinen Rücken. Im Ausatem kehrt er auf seine Sitzknochen und die aufrechte Haltung zurück. So spielen wir weiter mit der Rückseite seines Oberkörpers. Langsam werden Schulterbereich, Rücken und Becken modellierfähiger. Meine Absicht ist es, über diese Arbeit seinen Rücken zu wecken und dadurch Brustkorb und Kehlkopf zu entlasten. Während er zu Beginn bei jeder Einatmung Brustbein und Schultern hochgezogen hat, tritt jetzt eine sichtbare Erleichterung ein.
Nun möchte ich eine erste Verbindung zur Stimmgebung schaffen und den aktiven Part – den Widerstand gegen meine Hände – mit der Ausatmung verknüpfen. Ich besuche also weiter unterschiedliche Stellen seines Rückens, während Max im Ausatem sanft gegen meine Hände presst, sich unter meinen Händen ausbreitet, mich etwas von sich schiebt. Dabei kommt er wieder in eine Flexion und kehrt im Einatem in die aufrechte Position zurück. Allmählich ist auch das Becken bereit, sich weiter nach vorne zu kippen und so dem Oberkörper eine bessere Basis zu schaffen. Plötzlich verliert der Einatem seine Gewichtigkeit. Er geschieht nebenbei, fällt im Aufrichten in den Körper ein, statt forciert eingezogen zu werden.
Zum Abschluss unserer Lektion bitte ich Max, den Ausatem auf einem „mmm“ hörbar zu machen. Die Stimme wirkt etwas dünn und brüchig – noch fällt es ihr schwer, die Beziehung zum Rücken und meinen Händen aufzubauen. Aber für mich ist es damit gut. Ich bin mit dem Verlauf der Stunde zufrieden: Max kann Impulse sehr schnell aufgreifen. Er akzeptiert meinen Arbeitsstil und lässt sich auf meine Experimente ein. Über die gemeinsame Arbeit, das Bewegen, Berühren, Atmen, Tönen, hat sich ein Kanal geöffnet. Erfreut stelle ich fest: ja, ich kann diesem Menschen etwas mitgeben.
Bei unserem zweiten Treffen am darauf folgenden Tag berichtet mir Max von den positiven Nachwirkungen. Am Abend hatte er beim Üben festgestellt, dass ihm die Tiefenatmung leichter fiel und er nicht heiser wurde. Normalerweise ist Singen ein anstrengender, mühevoller Akt für ihn: Brustkorb und Schultern sind so stark in die Stimmgebung involviert, dass sich nach einer halben Stunde Verspannungen und Schmerzen einstellen. Dabei fällt es ihm immer schwerer, Zwerchfell, Bauch- und Beckenraum in die Atmung mit einzubeziehen. Dadurch wird auch seine Bruststimme, die er für die tiefen Töne und dunklen Vokale benötigt, nicht mehr ansprechbar. Die Spannung wandert Takt für Takt nach oben, der Druck bei der Bildung hoher Töne nimmt zu, was den Klang seiner Obertöne beraubt – er verliert an Glanz und Schärfe. All dies beobachtet Max und ärgert sich über seinen Körper. Die Angst vor dem Versagen der Stimme und die Ohnmacht gegenüber den physischen Prozessen nehmen ihm jede Freude am Singen.
Es wird im weiteren Prozess also nicht nur darum gehen, dass Max seine Gewohnheiten (in Haltung, Atmung und Stimmgebung) beim Singen verändert. Die wesentliche Veränderung muss in seiner Einstellung stattfinden. Die subtilen Botschaften des Körpers erkennen und achten. Empfindungen, Gefühle, Gedanken wahrnehmen, ohne sich damit zu identifizieren, sie kontrollieren oder verdrängen zu wollen. Den selbstregulierenden Kräften Raum und Zeit geben. Geduldig sein. Vertrauen. Keine leichte Aufgabe, wenn die nächsten Konzerte und Opernproduktionen warten, zwischen Feldenkraisunterricht, Auftritten, Arztbesuchen und CD-Aufnahmen.
Manchmal erscheint Max abgekämpft und unkonzentriert. Ich bitte ihn dann auf die Liege, arbeite schweigend an der Verbindung der Beine zum Rumpf, den Bewegungs- und Unterscheidungsmöglichkeiten von Becken und Brustkorb, der Beziehung der Arme zu Schultern und Oberkörper. Ich erforsche die Richtungen des Kopfes, die Bewegungen des Unterkiefers in Bezug zu Schädelbasis und Halswirbelsäule. Ich lenke seine Aufmerksamkeit zu den Rippen, dem Brustbein, dem Zwerchfell. Nach solchen Lektionen ist er still und sehr müde.
Überhaupt muss ich mich immer wieder ermahnen, in kleinen Schritten vorwärts zu gehen. Die Tatsache, dass Max schnell aufnimmt und umsetzt, lässt mich vergessen, dass hinter allem ein eiserner Wille und viel Druck steht. Es fällt ihm schwer, seine Grenzen wahrzunehmen und zu akzeptieren, einen Gang runter zu schalten, auszuatmen, eine Pause einzulegen. In dem ich Bewegungen mitmache, Töne produziere, dabei achtsam, suchend bleibe, verändert sich auch etwas in ihm. Ihm diese andere Qualität des Zusammenspiels von Bewegung-Denken-Fühlen-Spüren vorzuleben, ist vielleicht mein wertvollster Beitrag zu seiner weiteren Entwicklung.
In unseren weiteren Stunden arbeiten wir an seiner Aufrichtung im Stehen und der Frage, woher er sich die Kraft für die Stimme nimmt. Langsam lernt er, bei Tonende die Spannung zu lösen und sich wieder ganz auf den Boden einzulassen. Dadurch können tieferliegende Muskeln die Stützfunktion übernehmen und entlasten den Atem- und Stimmapparat. Wir erkunden die Klangräume in Rücken, Brustkorb und Kopf. Wir gehen der Frage nach, wie er in hohen Tönen (die sein Fach bestimmen) den Kopfresonanzraum öffnen kann, ohne die Erdung und den Bezug zum Rumpf zu verlieren.
Vor einigen Wochen gab Max ein Solokonzert in Wien – er bat mich, zu kommen und ihm Feedback zu geben. Angst und Spannung waren für mich, als nunmehr vertrauten Begleiter, hör- und sichtbar. Sie hinterließen allerdings nicht den bleibenden Eindruck. Seine dramatische Stimme, die Kraft des Ausdrucks, die geballte Ladung an Präsenz rissen mich mit und begeisterten. Hier zeigte sich seine wahre Stärke: die kompromisslose Leidenschaft, mit der er seine Arbeit ausführt.
Christoph Habegger, Feldenkrais Forum, 4. Quartal 2012
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