Schule für Nerven und Muskeln
(Der Standard 16.08.2011)
In der Feldenkrais-Gruppe wird nicht trainiert, sondern gelernt – In Einzelstunden gibt der Lehrer dem Nervensystem seiner Schüler neue Impulse
Auf den Matten im Bregenzer Studio Drehpunkt liegt eine Gruppe unterschiedlicher Menschen: Frauen und Männer, Junge und Ältere, Sportfreaks oder -muffel und solche, die nach Unfall oder Krankheit ihren Körper wieder zum Funktionieren bringen wollen. Feldenkrais-Lehrer Georg Feuerstein erklärt, worum es in der Stunde „Bewusstheit durch Bewegung“ geht: „Mit Feldenkrais lernen wir, uns differenzierter zu gebrauchen und zu bewegen.“
800 Muskeln, 200 Knochen, ein paar Millionen Nervenzellen hätten wir dazu als Werkzeug zur Verfügung. Jeder lerne als Kind in seiner eigenen Art und Weise, dieses Werkzeug zu gebrauchen, entwickle seine ganz individuellen Bewegungsmuster. Im Laufe des Lebens schleichen sich aber durch Verletzungen, körperliche oder emotionale Schocks „parasitäre“ Muster ein, die unter der Wahrnehmungsschwelle liegen, erzählt der Lehrer. Mit der Zeit würden sie uns einschränken oder sogar schmerzen. Mit der Feldenkrais-Methode wollen wir nun diesen Kompensationsmustern auf die Schliche kommen und sie durch langsame, kleine Bewegungen ausbessern. „Umlernen“ heißt die Strategie.
In der Gruppenarbeit geht es nicht um „höher, schneller, mehr“, sondern um „angenehmer, leichter“. Der Lehrer schafft eine beinahe meditative Atmosphäre, es gibt kein Richtig oder Falsch. Jeder macht, was seinen Möglichkeiten entspricht. Wer wegen einer Knieverletzung nicht knien kann, der liegt oder sitzt. Für den Impuls ans Nervensystem reiche es sogar, „wenn man die Bewegung nur denkt“, erstaunt der Lehrer seine Schüler. Wenn man sich auf dem Rücken liegend „komplett durchscannt, Körperteil für Körperteil“ werden Funktionen bewusst. „Unser Nervensystem lechzt nach Diversität, bekommt es das Angebot, wählt es die beste Funktion aus.“
Nicht Vorzeigen und Nachmachen sind wichtig, sondern das Lernen. Im Unterschied zu Übungen, die wiederholt und damit zur Gewohnheit werden, sei eine Feldenkrais-Lektion ein Lernprozess. Funktionen, die mit dem täglichen Leben zu tun haben, werden erweitert und verbessert: Das Gangbild, wie man sitzt, steht …
Je nach Lektion ist die Methode so entspannend, dass man in sanften Schlaf fällt. Feuerstein: „Es macht nichts, wenn man einschläft. In vielen Lektionen beschäftigt man sich mit kleinsten Bewegungen in sich selbst. Man reduziert sich völlig, das System wird zurückgefahren. Das ist die beste Voraussetzung, um Neues zu lernen.“
Das Aha-Erlebnis
Im Gegensatz zur Gruppenarbeit findet die „Funktionale Integration“ in Einzelstunden statt. Die Kommunikation ist beinahe nonverbal. Nicht Lehrer und Schülerin kommunizieren, sondern beide Nervensysteme. Was kompliziert klingt, ist ganz einfach: Man sucht sich auf der Liege die bequemste Liegeposition, der Feldenkrais-Lehrer beginnt mit seinen Händen die Bewegungsmuster der Schülerin zu erkunden und löst Aha-Erlebnisse aus: Berührt er Finger und Handgelenke, bewegen sich plötzlich die Schultern mit. Ab und zu erinnert ein „Das mach ich schon, Sie müssen gar nichts tun“ an die passive Rolle, die man eigentlich hätte. Beim sanften Bewegen von Kopf und Nacken spürt der Lehrer Widerstand, zeigt aber Verständnis: „Es ist schwer, seinen Kopf einem anderen zu überlassen.“
Feuerstein hat die Feldenkrais-Methode bei Mia Segal, Paul Rubin und Ruthy Alon erlernt. Alle drei wurden noch von Moshé Feldenkrais selbst ausgebildet. Feldenkrais wurden wegen seiner Hands-on-Methode heilerische Fähigkeiten angedichtet. Mit Magie haben die Berührungen aber nichts zu tun. Feldenkrais-Lehrer schulen ihr Nervensystem so, dass sie mit den Händen kleinste Unterschiede und damit Muskelaktivitäten wahrnehmen, die dem Berührten selbst nicht bewusst sind.
Mit gezielten, sanften Bewegungen gibt der Lehrer dann Impulse von Nervensystem zu Nervensystem. Bewegungsmuster, die unangenehm oder schmerzhaft sind, können so durch neue ersetzt werden. Einmal Erlerntes müsse nicht das ganze Leben lang passen, philosophiert Georg Feuerstein: „Wenn wir nur die Gewohnheit zur Verfügung haben, sind wir in einer Zwangslage, haben wir nur eine Alternative, im Zwiespalt. Freiheit des Handelns und Denkens beginnt dort, wo wir drei und mehr Optionen haben.“ Mit 800 Muskeln, 200 Knochen und Millionen Nervenzellen hätten wir die Optionen. Wir müssten sie nur nutzen. (Jutta Berger, DER STANDARD Printausgabe, 16.08.2011)
Funktionale Integration
Moshé Feldenkrais emigrierte als 14-Jähriger von der Ukraine nach Palästina. Bevor er in Paris Physik studierte, war er Straßenarbeiter, Judo- und Jiu-Jitsu-Lehrer. Moshé Feldenkrais hatte heilende Hände, sagt die Legende. Und: Moshé Feldenkrais stellte David Ben Gurion auf den Kopf.
Beide Aussagen haben einen wahren Kern. Der Physiker und Begründer der Feldenkrais-Methode setzte seine Hände ein, um einschränkende, schmerzhafte Bewegungsmuster und Gewohnheiten aufzuspüren.
Durch diese „Funktionale Integration“, wie er die sanften Berührungen nannte, wird ein Lernprozess ausgelöst. Bei Israels erstem Premierminister David Ben Gurion war dieser Lernprozess erstaunlich. Der 70-jährige Staatschef, ein Bewegungsmuffel, konsultierte Feldenkrais wegen chronischer Rückenschmerzen. Nach wenigen Einzellektionen wurde Ben Gurion beweglicher. „Doktor Hokuspokus“ nannte Ben Gurions Ehefrau Pola den Lehrer. Nach einem Jahr mit Feldenkrais ließ sich Ben Gurion beim Kopfstand fotografieren.
„Bewegung ist Leben. Ohne Bewegung ist Leben undenkbar“, lautet eines der bekanntesten Feldenkrais-Zitate. Seine Methode sei keine Therapie, sondern eine „Lernmethode“, betonte Feldenkrais. Er sei aber kein Lehrer, schaffe vielmehr die besten Bedingungen zum Lernen. Gelernt wird „Funktionale Integration“ in Einzellektionen, die Gruppenarbeit heißt „Bewusstheit durch Bewegung“. Basis der Feldenkrais-Methode ist das organische Lernen. Ein Leben lang sollte man sich die Fähigkeit des Kindes, aus der Bewegung zu lernen, erhalten. Mühelos, ohne Wettbewerbsdenken und ohne Wertung werden die Bewegungen durchgeführt. Fehler sind ausdrücklich erwünscht, „ohne Fehler kein Lernen“, postulierte Feldenkrais.
Zur Beschäftigung mit dem menschlichen Körper kam der junge Nukleartechniker und Kampfsportler Feldenkrais, als ihm nach einer Knieverletzung eine Operation drohte. Anatomie, Mechanik des menschlichen Organismus, Neurophysiologie und Psychologie begannen ihn zu interessieren. 1949 beschrieb er seine Methode in seinem ersten Buch Der Weg zum reifen Selbst.
Feldenkrais-Lehrende findet man über die Website des Feldenkrais-Verbandes. (jub)
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Feldenkrais: Schule für Neven und Muskeln
(Der Standard 16.08.2011)